Expertengruppe zu Ayotzinapa: 43 Studenten sind nicht auf Müllhalde verbrannt worden

von Gerd Goertz

Dienstag, den 08. September 2015

(Berlin, 07. September 2015, npl).- Vor knapp einem Jahr verschwanden in der mexikanischen Stadt Iguala nach koordinierten Attacken von lokaler Polizei und Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos 43 junge Lehramtsstudenten der ländlichen Universität von Ayotzinapa. Während der Attacken wurden zudem sechs Menschen ermordet. Die mexikanische Generalbundesstaatsanwaltschaft PGR erklärte den Fall im Januar 2015 für praktisch gelöst. Die verschwundenen Studenten seien ebenfalls ermordet und auf einer Müllhalde nahe Iguala zu Asche verbrannt worden. Verantwortlich seien neben dem Bürgermeisterehepaar von Iguala ausschließlich die lokale Polizei und die Drogenmafia. Der damalige Generalbundesstaatsanwalt Jesús Murillo Karam verteidigte seine Version gegenüber den Skeptiker*innen als „historische Wahrheit“.

Am Sonntag, 6. September legte die fünfköpfige Interdisziplinäre Gruppe Unabhängiger Experten GIEI (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH nach knapp sechsmonatigen eigenen Auswertungen einen umfassenden vorläufigen Bericht zu den Ereignissen vor. Ihr Bericht verwirft nicht nur die Regierungsversion. Er legt letztendlich auch die Verwicklung von Bundespolizei und Armee in das Verschwindenlassen der Studenten nahe.

Armee und Bundespolizei sollen in Fall verwickelt sein

Die GIEI führte ausführliche wissenschaftliche Belege dafür an, die es unmöglich erscheinen lassen, dass die Studenten tatsächlich an dem angegebenen Ort innerhalb weniger Stunden zu Asche verbrannt wurden. Die drei Männer und zwei Frauen wiesen ebenfalls mit Nachdruck darauf hin, dass das Koordinationssystem zwischen der Polizei auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene sowie dem Militär in der Tatnacht vom 26. auf den 27. September 2014 funktionierte.

Bundespolizei und vor Ort stationierte Militärs müssen daher genau gewusst haben, was in Iguala vor sich ging. Dennoch fehlen über die drei Stunden, in denen die Studenten mehrfach attackiert wurden, entsprechende Unterlagen. Die GIEI weist in ihrem Bericht auf zahlreiche Widersprüche der Zeug*innenaussagen hin. Bei ihrer mündlich vorgetragenen Zusammenfassung am Sonntag sprachen die Expert*innen an, dass einige Aussagen von Beschuldigten möglicherweise unter Folter zustande kamen. Nicht verfolgte Ermittlungslinien, verspätete und mangelnde Versorgung verwundeter Opfer und deren Familienangehörigen sowie völlig unprofessionelles Vorgehen bei den Ermittlungen waren weitere Kritikpunkte der Expert*innengruppe. Letztendlich sprach diese sich dafür aus, die Untersuchungen weitgehend neu aufzurollen. Ganz Mexiko warte auf eine Aufklärung. Auch der wirklichen Motive des Verbrechens.

Untersuchungen müssten neu aufgerollt werden

Die Familienangehörigen der 43 verschwundenen Studenten setzten sich wenig später auf einer eigenen Pressekonferenz für den unbefristeten Verbleib der GIEI in Mexiko ein. Der Bericht habe ihre Hoffnung genährt, die Studenten könnten doch noch leben. Sie forderten ein direktes Gespräch mit Präsident Enrique Peña Nieto bis spätestens zum 10. September. Für den 26. September riefen die Familienangehörigen zu einer landesweiten Großdemonstration auf. Der Präsident informierte am Sonntag über Twitter, er habe sein Kabinett angewiesen, die von der GIEI beigebrachten Elemente „zu berücksichtigen“. Innenminister Osorio Chong versprach erneut, es werde im Fall von Ayotzinapa keine Straflosigkeit geben. Und die seit Ende Februar amtierende Generalbundesstaatsanwältin Arely Gómez kündigte neue Gutachten international anerkannter Sachverständiger über die angebliche Verbrennung der Studenten an.

An der Wahrhaftigkeit des Aufklärungsinteresses der mexikanischen Regierung müssen jedoch Zweifel erlaubt sein. Ihr war aufgrund des internationalen Drucks kaum etwas anderes übrig geblieben, als die Expert*innengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission vor sechs Monaten ins Land zu lassen. Doch zuvor berief Präsident Peña Nieto den umstrittenen Generalbundesstaatsanwalt Karam ab. Der Kommandant des in Iguala stationierten 27. Infanteriebataillons wurde vor gut einem Monat in eine andere Landesregion versetzt. Die Bitte der GIEI, die Militärs in Iguala direkt interviewen zu können, wurde bisher nicht erhört. Die Expert*innengruppe beklagte sich zudem noch vor Kurzem über die mögliche Vernichtung eines Beweisvideos. Weder diese Vorgänge noch der Expertenbericht sind geeignet, die heftigste Anklage der Familienangehörigen der Studenten zu entkräften: „Es war der Staat.“

Den spanischsprachigen Untersuchungsbericht findet ihr hier.

http://www.npla.de/de/poonal/5247