Der Aufstand der Landarbeiter im Tal von San Quintín

Sommer 2015
lunapark 21

Arbeitskampf für menschenwürdige Lebensbedingungen im Norden Mexikos

Es ist eine idyllische Beschreibung auf der Webseite des Hotels Mission Inn in der Kleinstadt San Quintín: „Das Tal, heute mehr eine Ebene als ein Tal, be- findet sich inmitten einer Reihe von sieben erloschenen Vulkankegeln [...] Direkt neben dem Strandufer und der Bergkette von San Miguel im Osten. Zwei kleine Flüsse [...] nähren ein Be- wässerungssystem, welches das Tal in ein bedeutendes Zentrum für den Ge- müseanbau verwandelt. Viele aus Oaxa- ca und Chiapas stammende Personen arbeiten auf diesen Pflanzungen und leben in der Umgebung von San Quin- tín.“

Man kann diese Beschreibung noch etwas ausführen. Nach dem letzten Zensus von 2010 lebten in San Quintín, Teil des weitläufigen Landkreises Ense- nada im nördlichen mexikanischen Bundesstaat Baja California (Niederka- lifornien), etwas mehr als 5000 Men- schen. Heute dürfte diese Zahl ein- schließlich der Hotelgäste des Mission Inn deutlich höher liegen. Doch weitaus bevölkerter sind die Vororte und die großen Farmen in der Umgebung. Dort leben oder besser gesagt hausen meh- rere zehntausend Landarbeiter mit ihren Familien unter vielfach men- schenunwürdigen Bedingungen. Oft zusammengepfercht in den „Galeeren“, den langgezogenen Baracken auf den Pflanzungen. Zu Hungerlöhnen von 70 bis 130 Pesos (vier bis siebeneinhalb Euro) pro Tag auf den Feldern einge- setzt. Ständig mit Pestiziden in Kontakt, mit denen der Obst- und Gemüseanbau besprüht wird. Mehrheitlich ohne durchsetzbares Recht auf Urlaub, nicht einmal auf einen Ruhetag. Sozialversi- cherung, Gesundheits- und Wasserver- sorgung sind für die meisten ein Fremdwort. Dagegen gibt es eine Ga- rantie auf illegale Kinderarbeit, unbe- zahlte Überstunden und sexuelle Über- griffe gegen die Frauen durch die Vor- arbeiter.

Zum Teil sind die Landarbeiter im Tal von San Quintín sogar in Gewerkschaf- ten eingeschrieben. Doch viele von ihnen dürften das nicht einmal wissen. Denn es sind die unternehmer- und regierungsfreundlichen Dachverbände wie der CTM (Arbeiterbund Mexikos) und der CROC (Revolutionärer Arbei- ter- und Bauernbund), die sogenannte Schutzverträge mit den Arbeitgebern abschließen. Schutzverträge, weil sie die Unternehmer vor bösen Überra- schungen schützen. Die eingeschriebe- nen Gewerkschaftsmitglieder wissen in der Regel weder, wer sie da vertritt, noch was in den Verträgen über Lohn- und Arbeitsbedingungen steht. Der Journalist Luis Hernández schreibt: „Hier pressen sie die Tagelöhner aus wie Apfelsinen, denen der Saft entzogen wird, bis sie nur noch Schale sind.“

Nach Zeitungsberichten aus Baja California kontrollieren etwa zwölf bis 15 Unternehmerfamilien und einige multinationale Konzerne das Agrobusi- ness im Bundesstaat und die Export- Enklave von San Quintín. Die Unter- nehmerfamilien entsenden ihre Mit- glieder in die lokalen Regierungsbehör- den. Ein Beispiel ist Manuel Valladolid, Minister für Landwirtschaftsförderung in Baja California. Auch der Gouverneur Francisco Vega de Lamadrid gilt als eng mit der Agrarlobby verbandelt.

Interessiert hat all das in der Ver- gangenheit so gut wie niemanden. Bis zur Nacht vom 17. auf den 18. März dieses Jahres. Da blockierten völlig überraschend tausende von Landarbei- tern auf einer Länge von über 100 Kilo- metern die Fernverkehrsstraße, die die Halbinsel von Baja California durch- quert. Ankündigt wurde ein unbefriste- ter Streik. Die Forderungen: Erhöhung des Tagesgrundlohnes auf 300 Pesos sowie entscheidende Verbesserungen der allgemeinen Lebensbedingungen. Der Zeitpunkt war strategisch gewählt. Im März beginnt im Tal von San Quin- tín unter anderem die Erdbeer- und Tomatenernte. Es handelt sich um zwei der rentabelsten Exportprodukte.

Die Streikenden gehörten dem Bündnis der Organisationen für Soziale Gerechtigkeit an. Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit schaffte es diese Alli- anz in den vergangenen Jahren, einen bedeutenden Teil der Landarbeiter in San Quintín zu organisieren. Unter anderem stützte sie sich dabei auf die überkommenen solidarischen Gemein- destrukturen indigener Migranten aus anderen Bundesstaaten. Viele von die- sen kamen auf der Suche nach Arbeit Ende der 1990er Jahre nach Baja Cali- fornia. Einige schafften es, den beson- ders bedrückenden Lebensumständen in den „Galeeren“ zu entfliehen und prekäre Siedlungen zu errichten. Die Gemeinschaften mit ihren jeweiligen lokalen Führungspersönlichkeiten bil-den das Rückgrat der aufbegehrenden Bewegung. Monatelang wurde vergeb- lich versucht, mit dem seit Ende 2013 amtierenden konservativen Gouverneur über die elende Situation der Landar- beiter zu diskutieren. Im März war das Maß voll. „Wir wollten uns und unsere Stärke zeigen“, so Fidel Sánchez, einer der sichtbarsten Sprecher der Bewe- gung.

Landes- und Bundesregierung rea- gierten auf den massiven Protest zu- nächst mit einem massiven Polizeiein- satz. Das schloss den Gebrauch von Gummigeschossen und Tränengas so- wie die Verhaftung von ursprünglich mehr als 200 Personen ein. Dennoch konnte die Straßenblockade mehr als einen Tag aufrecht erhalten werden. Plötzlich war die Landarbeiterfrage in den Medien präsent. Land und Bund sahen sich gezwungen, mit dem Bünd- nis zu verhandeln. Gouverneur Vega de Lamadrid beeilte sich, die Forderungen als „undurchführbar“ abzutun. Zehn bis maximal 15 Prozent Lohnerhöhung, so gaben die Unternehmer in den Folgeta- gen zu verstehen, seien vorstellbar.

In einem monatelangen Kräftemes- sen wandten die Regierungsvertreter ihre bewährten Strategien an: Ohne nähere Benennung wurden „externe“ Akteure für die Gefährdung des „sozia- len Friedens“ in Baja California verant- wortlich gemacht. Man bestellte die Landarbeiterdelegation in die gut 200 Kilometer vom Ort San Quintín ent- fernte Stadt Ensenada. Die Delegation zeigte Muskeln: Etwa 4000 Landarbei- ter begleiteten ihre Sprecher, eine erhebliche organisatorische Leistung.

Das Bündnis setzte von Anfang an auch auf die Unterstützung von außen. Seine Forderungen sind bis heute mit der Androhung eines Exportboykotts verbunden. In diesem Zusammenhang sind Solidarität und Kontakte über die niederkalifornische Grenze hinweg wichtig. Gute Beziehungen bestehen beispielsweise zum Indigenen Bündnis Binationaler Organisationen (Fiob), das im US-amerikanischen Kalifornien gut organisiert ist. Es gab Proteste gegen „blutige Erdbeeren“ vor den US-Super- märkten von Whole Foods, der Erdbee- ren aus dem Tal von San Quintín anbie- tet. Eine ähnliche Aktion in den USA betraf die Kette El Súper. Sie wird von dem mexikanischen Konsortium Grupo Comercial Chedraui kontrolliert. Wal- mart und Costco wurden als potentielle Kandidaten für eine Boykott-Kampa- gne genannt. Inzwischen erklärte sich der US-Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO mit den Landarbeitern von San Quintín solidarisch. Das Bündnis der Organisationen für Soziale Gerechtig- keit zog in einer Karawane durch Baja California. Organisationen in anderen Bundesstaaten wurden besucht. Unter anderem kamen die Landarbeiter mit den Yaquis zusammen, die seit über zwei Jahren im Bundesstaat Sonora für ihre Wasserrechte kämpfen. Sie trafen sich mit den Familienangehörigen der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa aus dem Bundesstaat Guer- rero. In Mexiko-Stadt warben sie auch unter Parlamentsabgeordneten für ihre Sache.

Am 9. Mai kam es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen örtlichen Poli- zeikräften und Landarbeitern. Vorwand für den erneuten massiven Polizeiein- satz, der auch Hausdurchsuchungen in der Siedlung Nuevo San Juan Copala einschloss, war der Hilferuf eines Farm- besitzers, dessen Feld angeblich in Brand gesteckt werden sollte. Bei den Auseinandersetzungen wurden minde- stens 70 Landarbeiter verletzt, mehrere schwer.

Wegen der Schäden an einer Poli- zeipatrouille, einem gepanzerten Fahr- zeug und der Verletzung von zwei Poli- zisten setzte ein Gericht die Kaution für vier verhaftete Landarbeiter auf insge- samt 24 Millionen Pesos (gut 14 Millio- nen Euro) fest. Dafür müsste ein Land-arbeiter bei den bisher gezahlten Löh- nen etwa 150 Jahre arbeiten, rechnete nicht nur Fidel Sánchez vom Bündnis vor. Selbst viele bürgerliche Medien wiesen süffisant auf einen anderen zeitnahen Fall hin: Im April wurde Rodrigo Vallejo, der Sohn des ehemali- gen Gouverneurs des Bundesstaates Michoacán, verhaftet. Zahlreiche Indi- zien bringen ihn mit einem Drogenkar- tell in Verbindung. Doch Vallejo Junior kam gegen die Zahlung einer Kaution von 7000 Pesos umgehend wieder frei.

Die Konfrontation zeigte aber auch den ungebrochenen Widerstandswillen der Landarbeiter. Dies dürfte die weni- ge Tage darauf zustande gekommene vorläufige Einigung mit Land und Bund beschleunigt haben. Vom ursprünglich angestrebten Grundlohn von 300 Pesos pro Tag sind die Vereinbarungen aller- dings weit entfernt. Die Agrarunter- nehmen sollen nun gestaffelt nach ihrer Leistungskraft einen Tageslohn von 150, 165 oder 180 Pesos sowie bes- sere Tarife bei Akkordarbeiten zahlen. Dazu eine Art Weihnachtsgeld, das zwei Wochen Arbeit entspricht. Die Diffe- renz zum zuletzt vom Bündnis gefor- derten Grundlohn von 200 Pesos soll der Staat übernehmen. Ein feines Ge- schäft für die Unternehmer. Dennoch haben diese bisher nicht einmal aus- drücklich zugesichert, die Vereinbarun- gen zu übernehmen. Auch ansonsten ist es vor allem der Staat, der sich auf dem Papier zu Leistungen und Garan- tien verpflichtet. So sichert er dem Bündnis der Organisationen für Soziale Gerechtigkeit zu, sich als Gewerkschaft konstituieren zu können. Die Landar- beiter sollen ohne eigene Beiträge der Sozialversicherung beitreten können. Ein Treuhandfonds soll die Infrastruktur unter anderen im Gesundheits- und Bildungssektor in der Region entwik- keln. Die Bedingungen für die Arbeit und Unterkunft sowie das Verbot der Kinderarbeit sollen besser kontrolliert werden. Völlig unklar ist noch, wie viele Landarbeiter im Tal von San Quintín tatsächlich von den Vereinbarungen begünstigt werden.

Die Einigung führte auch zur Frei- lassung der vier verhafteten Landarbei- ter – nach einer von 24 Millionen auf 17000 Pesos heruntergesetzte Kaution. Allerdings befanden sich Ende Juni immer noch 14 der bei den Straßen- blockaden im März verhafteten Perso- nen im Gefängnis. Das Mai-Abkommen ist brüchig. Das Bündnis wirft den Re- gierungsstellen vor, seit dem Abschluss der Vereinbarungen weitgehend untä- tig geblieben zu sein. Im Juli sollen sich die Verhandlungskommissionen erneut zusammensetzen, um die Umsetzung der Absprachen anzugehen.

Angesichts des noch unsicheren Ausganges des Arbeitskampfes will das Bündnis der Organisationen für Soziale Gerechtigkeit weiter offensiv agieren. Sprecher Fidel Sánchez sagt: „Wir wer- den nicht noch einmal auf die Knie fal- len.” Die Bewegung sei „auf mehr aus. Sie wird wachsen, sich nicht zufrieden geben mit Lohnergebnissen. Es geht um die Gewerkschaft und ein Bündnis mit den Landarbeitern anderer Bundesstaa- ten.“ Da ein Großteil der Landarbeiter indigenen Ursprungs ist, wird eine noch stärkere landesweite Vernetzung mit den indigenen Völkern in ihren Ur- sprungsregionen angestrebt. Denn die Bewegung geht davon aus, dass die Unternehmer jetzt nach dem Prinzip von „teile und herrsche“ vorgehen wer- den. Die Agrarindustrie hat Angst vor dem Gespenst, das weiter umgehen könnte. Bereits vor Monaten warnte ein Vertreter der großen Gemüseanbauer im Bundesstaat Sinaloa mit Verweis auf San Quintín vor dem „Virus“, der sich woanders ausbreiten könne. Der Bun- desregierung wird es ebenfalls ein Dorn im Auge sein, dass sich ein lokaler Ar- beits- und Lohnkampf so schnell zu einem landesweit sichtbaren Gesell- schaftskonflikt ausweitete.

Es mag Ausdruck eines übertriebe- nen Optimismus sein, wenn einige ein „völlig neues Klassenbewusstsein“ unter den Landarbeitern im Tal von San Quintín ausmachen. Zweifellos aber haben die Sprecher der Bewegung eine realistische Einschätzung der Lage. Fidel Sánchez: „Wir haben den Krieg nicht verloren. Und wir werden noch viele Schlachten schlagen.”

Gerold Schmidt, seit 21 Jahren ein Wanderer zwischen mexikanischen und deutschen Wel- ten, arbeitet mit dem Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (Ceccam) in Mexiko-Stadt zusammen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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