Der „Maya-Zug“ auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán

Dezember, 2021
LunaPark21 56

Es ging durch die internationa- le Presse. Im Bade- und Touristenort Tulum an der mexikanischen Kari- bikküste lieferten sich verfeindete
Drogenbanden am 20. Oktober eine nächtliche Schießerei in einer kleinen Bar. Zwei unbeteiligte Gäste auf der Terrasse kamen ums Leben, darunter eine Deutsche.
Tulum ist zuletzt explosionsartig
gewachsen, wie dies in den Jahrzehn- ten zuvor erfolgte im Fall von Cancún und Playa del Carmen, zwei weiteren Städten an der Riviera Maya. Die Gewalt wuchs mit. Die Touristen, oft in All-Inclusive-Hotels isoliert unter- gebracht, bekommen davon nur in Ausnahmefällen etwas mit. Die einhei- mische und auf der Suche nach Arbeit zugereiste Bevölkerung kann jedoch nicht entfliehen.
Ähnliche Zustände könnte es bald an vielen weiteren Orten auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán geben, fürchten viele indigene und kleinbäuerliche Gemeinden. Sie haben Angst vor dem „Maya-Zug“. Sein Bau ist bereits in vollem Gange. Die derzeit durch Europa reisende große Dele- gation der indigenen zapatistischen Widerstandsbewegung spricht von einem „Projekt des Todes“.
Der Maya-Zug ist eines der Pres- tigevorhaben der sich selbst als links bezeichnenden Regierung unter Prä- sident Andrés Manuel López Obrador. Die Parallelen zum interozeanischen Korridor am Isthmus von Tehuantepec, beschrieben in Lunapark21 Nr. 53, sind auffällig.
Im Namen des Fortschritts sowie wegen angeblich besserer Beschäfti- gungsmöglichkeiten für die Bevölke- rung steht die territoriale Neuordnung eines riesigen Gebietes bevor. Reakti- vierte Gleisstrecken sowie drei lange Neubau-Abschnitte unterteilt in Golf-, Karibik- und Regenwaldzone sollen sich zu einem 1500 Kilometer langen Schienennetz auf der Halbinsel Yuaca- tán (mit den Bundesstaaten Yucatán, Quintana Roo, Campeche) sowie den Bundesstaaten Chiapas und Tabasco zusammenfügen (siehe Karte).
Das Wort Netz ist irreführend. Denn auf der Halbinsel handelt es sich um einen Rundkurs, der touristische Se- henswürdigkeiten wie Nationalparks, Pyramiden und die für die Region typischen Karstgewässer abfährt. Ge- plant sind vorerst 19 Bahnhöfe und elf weitere einfache Haltestellen. Jährlich sollen bald mehrere Millionen Touris- ten mit einer angepeilten Höchstge- schwindigkeit von 160 km/h über die Route geschleust werden.
Umweltzerstörung und Migrationsbekämpfung
Der lokale Personenverkehr – zu günstigeren Tarifen und in ande-
ren Fahrklassen – wird laut Planung mit Gütertransport kombiniert. Das Investitionsvolumen aus privaten und öffentlichen Quellen: umgerechnet etwa 6 Milliarden. Im Umfeld der Bahnhöfe und Sehenswürdigkeiten
ist die Entwicklung „nachhaltiger“ Gemeinden vorgesehen. Dazu kom- men mehrere kleine Flughäfen sowie der Straßenausbau. Wie bei den meisten anderen Großprojekten der aktuellen Regierung ist ein Bau-Ab- schluss für Ende 2023 angestrebt. Ein politischer Termin. Danach wird bis
zu den allgemeinen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Mitte 2024 der Wahlkampf voll entbrennen. Wie beim interozeanischen Korridor ist das Militär für den Bau mehrerer Stre- ckenabschnitte zuständig. Ihnen will Präsident López Obrador als Hemmnis gegen spätere Privatisierungsversuche den Betrieb der Strecke unterstellen.
Die Liste der Bedenken gegen den Maya-Zug ist lang: zum einen aus öko- logischer Sicht. Im Abschnitt durch den Regenwald wird kräftig gerodet. Ein weiterer Einwand: Der poröse Karst- boden könnte einer Dauerbelastung durch die Bahnstrecke nicht standhal- ten. Die enormen Grundwasserreser- ven auf der Halbinsel sind durch ein einzigartiges unterirdisches Fluss- System verbunden. Wasserverschmut- zungen durch Bevölkerungs- und Industrieansiedlungen im Kontext des Vorhabens könnten sich schnell über ein weites Gebiet ausweiten. Mitte 2020 tauchten Informationen auf, die gesamte Strecke werde mit Dieselloks befahren. Die zuständige Behörde Fo- natur dementierte: Man habe immer die Möglichkeit einer Elektrifizierung der Strecke „in Betracht gezogen“. Zum Betriebsstart würden 40 Prozent der Strecke elektrifiziert sein. „Dies spiegelt unsere Verpflichtung ge- genüber dem Umweltschutz und der Energieeffizienz wider.“ Kommentar überflüssig. Die Stromquellen sind bisher nicht wirklich klar. Saubere
Energie wird es eher nicht sein.
Die Auswirkungen auf die Bevöl- kerung sind vorhersehbar. Im nahen
Einzugsbereich der Bahnstrecke gibt es etwa 1500 indigene (überwiegend mayas, aber auch tseltal, ch’ol, jakalte- ko, awuakateko und akateko) und 533 in sogenannten Ejidos organisierte Ag- rargemeinden. Die Beispiele Cancún, Playa del Carmen und Tulum zeigen: Die touristische Entwicklung kann aus kleinen Gemeinden innerhalb weniger Jahrzehnte zum Teil unkontrollier- bare Städte machen. Die boomende Bauindustrie hat dort zehntausende Menschen aus allen Landesteilen angelockt. Sie siedeln sich unter pre- kären Bedingungen und ohne lokale Verwurzelung an. Wachstum und die touristische Klientel haben die Präsenz rivalisierender Drogenkartelle und des organisierten Verbrechens nach sich gezogen. Der Ausbau der Infrastruktur wird Industrievorhaben in der Region attraktiver machen und die Sozial- struktur stark verändern. Schon jetzt leiden Gemeinden unter der Invasion riesiger Schweinemastbetriebe in ihrer Nähe. Die hervorgehobene Stellung und Präsenz der Militärs eignet sich gleichzeitig zur Bevölkerungs- und Migrationskontrolle. Wie beim inter- ozeanischen Korridor wird offen aus- gesprochen, dass die „Entwicklung“ der Region durch den Maya-Zug auch dazu dienen soll, die Migrationsbewe- gungen Richtung USA aufzuhalten.
Deutsche Bahn
als Legitimation
Widerstand gegen den Maya- Zug gibt es in vielen organisierten Ge- meinden. Sie haben Streckenverlegun- gen und Baustopps erreicht. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Maya-Zug auch Zuspruch vor Ort erfährt. Spätestens seit Beginn der 1990er-Jahre wurden die Grundlagen für eine mittelständische, kleinbäuer- liche und indigene Landwirtschaft in Mexiko systematisch zerstört. Lohn- arbeit im Rahmen des Streckenbaus sowie die Aussicht auf Touristenströme ist für viele Bewohner eine Option – gezwungenermaßen. Der Bereitschaft, dem Maya-Zug zuzustimmen, wird
durch staatliche Investitionen und Sozialprogramme in den 43 Landkrei- sen, durch die die Strecke führen soll, nachgeholfen. Belegt hat das unter anderem das Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (Ceccam), aus dessen Veröffentlichung (icayautohttp://www.crisisclimatica- yautonomia.org/documentView/36) auch die Karte stammt. Die Regierung streitet diesen Zusammenhang auch nicht wirklich ab. Die vorgeschriebe- ne vorherige, freie und informierte Befragung der indigenen Gemeinden genügt den in der ILO-Konvention 169 und anderen internationalen Rechtsinstrumenten festgelegten Standards nicht. Dennoch spricht die Nationale Behörde für die Indigenen Völker (INPI) von nahezu „einhelliger“ Zustimmung der Gemeinden. Eine bewusste Realitätsverleugnung.
Die pikante Note aus deutscher Perspektive ergibt sich durch die Beteiligung der Deutschen Bahn über ihre DB Consulting & Engineering am Maya-Zug. Das Auftragsvolumen von 8,6 Millionen Euro ist im Verhältnis zur Gesamtinvestition in das Projekt minimal. Doch als sogenannter „Schat- tenbetreiber“ im Zeitraum 2020 bis 2023 interveniert die Deutsche Bahn durchaus stark hinsichtlich zukünftiger Betriebsabläufe. Für die mexikanische Regierung erfüllt die „angesehene“ DB eine Legitimationsfunktion. Über die DB Consulting & Engineering unterstützt sie ein Vorhaben, von dem hohe ökologische Risiken ausgehen und das Menschenrechte verletzt, indem es unter anderem die ILO- Konvention 169 nicht respektiert. Eine Konvention, die die Bundesrepublik Deutschland, öffentlicher Eigentümer der DB, übrigens nach jahrelangem Hinauszögern erst im April 2021 unter- schrieben hat.
„Nichts mit Gewalt, alles nach Vernunft und Recht“, gibt die mexika- nische Regierung offiziell vor. Aber sie hat, allen voran López Obrador, klar gemacht, den Maya-Zug auf jeden Fall durchsetzen zu wollen.
Gerold Schmidt lebt in Mexiko und ist seit Grün- dung dieser Zeitschrift aktiv im LP21-Team.

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